In der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1950er Jahren hatte das Nahrungsmittelhandwerk in seiner Versorgungsrolle für die deutsche Bevölkerung einen unangefochtenen Stand. Insbesondere das Bäcker- und Metzgerhandwerk waren unersetzlich, die mit ihren Brot- und Back- sowie Fleisch- und Wurstwaren essenzielle Grundnahrungsmittel herstellten. Spätestens seit den 1960er Jahren kam es jedoch auf der Produzentenseite zu Umbrüchen, die diese Vorrangstellung des Nahrungsmittelhandwerks anfochten. Brotfabriken, industrielle Fleischwarenhersteller und Großschlachtereien drängten auf den Markt. Die aufkommenden Supermärkte boten eine neuartige Verkaufswelt für die Waren dieser Hersteller. Etwa zur selben Zeit begannen sich zudem Einkaufsverhalten, Geschmackspräferenzen und Lebensalltag vieler Deutscher spürbar zu wandeln. Insgesamt stieg der Fleischkonsum rapide an, der Bedarf an Schwarzbrot ging zugunsten von Weißbrot zurück. Gleichzeitig wurde immer mehr auswärts gegessen oder schnell etwas auf die Hand mitgenommen – und das alles mit dem Wunsch nach niedrigen Preisen auf Seiten der Konsumentinnen und Konsumenten. Die Folgen für das Metzger- und Bäckerhandwerk lassen sich seitdem an einem Rückgang der Betriebs- und Beschäftigtenzahlen ablesen.
Das Bäcker- und Metzgerhandwerk in Westdeutschland
Themenzuschnitt für die Lehrveranstaltung
Im Seminar lag der Fokus auf der Entwicklung des Bäcker- und Metzgerhandwerks im Ruhrgebiet in den 1970er und 1980er Jahren. Von der Zeitgeschichte als Epoche „nach dem Boom“ diskutiert, warten diese zwei Jahrzehnte mit besonderen Herausforderungen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und letztlich auch für das Nahrungsmittelhandwerk auf: Ölpreiskrisen, das Aufkommen der ersten Discounter, ein wirtschaftspolitischer Paradigmenwechsel und ein gesteigertes Konsum- und Umweltbewusstsein in der Bevölkerung. Die Erforschung des Bäcker- und Metzgerhandwerk ist in der Geschichtswissenschaft für diesen Zeitraum bislang jedoch kaum angestoßen worden.
„Manchmal haben wir sogar mit zugehangenen Scheiben gearbeitet.“
„Dann bin ich über die Bauernschaften gefahren.“
Die Rolle von Oral History für die Lehrveranstaltung
Die einschlägige konsum-, unternehmens- und regionalhistorische Sekundärliteratur konnte über Kontextwissen lediglich die historische Kulisse nachzeichnen, in der sich das Bäcker- und Metzgerhandwerk in den 1970er und 1980er Jahren bewegt haben. Hierin lag auch die besondere Herausforderung für die Studierenden. Um den Leerstellen in der historischen Forschung beizukommen, wurde zum einen eine Auswahl an zeitgenössischem Quellenmaterial zur Verfügung gestellt, über das branchenspezifische Entwicklungslinien sowie ein zeitgenössisches Problembewusstsein und Selbstverständnis von Bäcker- und Metzgerhandwerk erarbeitet werden konnte. Zum anderen sollten Interviews mit Zeitzeug*innen aus dem Bäcker- und Metzgerhandwerk geführt werden. Beides – zeitgenössische Quellen und Oral History-Interviews – stellten damit die Ausgangsbasis für interessengeleitete studentische Forschungsprojekte zum Bäcker- oder Metzgerhandwerk.
Die Entscheidung für das Führen von Oral History-Interviews wurde nicht allein aufgrund der bestehenden Forschungslücken gewählt. Gerade in Verbindung zu den statistischen Daten der beiden Branchen, die im Seminar diskutiert wurden und für Westdeutschland einen numerischen Niedergang der Betriebe und Konzentrationsprozesse im Bäcker- und Metzgerhandwerk anzeigen, eröffneten die Zeitzeugenberichte individuelle Fragestellungen abseits von konsum- und unternehmenshistorischen Erkenntnisinteressen, namentlich: für berufsständische Identitätskonstruktionen, narrative der Handwerksstände und Vorstellungen von Berufsethos.
Insgesamt konnten drei Interviews durchgeführt werden. Eines mit einem Metzger und zwei weitere mit je einem Bäcker, die aus dem Ruhrgebiet kommen bzw. dort gearbeitet haben. Das erste Interview fand in einer Gruppengröße von zehn Studierenden statt. Zwei der Studierenden haben das Interview geleitet, der Rest der Gruppe hatte zum Ende des Interviews die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen. Die anderen beiden Interviews fanden mit einer Gruppengröße von jeweils fünf Studierenden statt, wobei ein Interview von zwei und das andere von drei Studierenden geführt wurde.
Reflexion
Im Rückblick kann festgehalten werden, dass die Lehrveranstaltung von den Studierenden sehr gut angenommen wurde. Der Verbund aus Quellenforschung, Sichtung von Sekundärliteratur und dem Erarbeiten eigener Forschungsfragen sorgte für ein durchgehend hohes Interesse an der Handwerksthematik und der Beteiligung an der Interviewvorbereitung und -durchführung.
Gleichzeitig erwies sich der Umfang von zwei Semesterwochenstunden jedoch des Öfteren als zu knapp. Der organisatorische Aufwand und das gemeinsame Klären praktischer Abläufe eines Interviews nahm so etwa bedeutend mehr Zeit ein, als ursprünglich eingeplant war. In der Folge mussten Abstriche in der Vermittlung theoretischer Perspektivierungsmöglichkeiten, wie der Konsum- und Unternehmensgeschichte, gemacht werden, die für die Studierenden als Unterstützung für die Hausarbeiten angedacht waren. Dass trotz aller zeitlichen Einschränkungen die inhaltlichen und methodischen Kompetenzen zu weiten Teilen erfolgreich erarbeitet und diskutiert werden konnten, wird daran ersichtlich, dass die Interviews von den Studierenden mit großem Engagement und Können durchgeführt worden sind.
Einen Einblick in die Interviews finden Sie auf Oral-History.Digital.